Sonntag, November 05, 2017

Interreligiöser Rundbrief Nr. 2017-01



Interreligiöser Rundbrief für Bonn und Umgebung Nr. 2017-01 (05.11.2017)


"Die Religion also ist die Beziehung des Geistes zum absoluten Geist."

"So ist die Religion Wissen des göttlichen Geistes von sich durch Vermittlung des endlichen Geistes"[1]


Liebe Leserinnen und Leser,

ich habe doch tatsächlich seit August 2016 keinen interreligiösen Rundbrief mehr geschrieben, worüber sich auch niemand beschwert hat. Vielleicht hat es angesichts der Flut interreligiöser Weiterleitungen auch gar niemand gemerkt oder den Unterschied zwischen beiden Formen eh kaum einer verstanden. Andererseits sind die meisten Mitglieder des Verteilers des interreligiösen Rundbriefes nicht im Verteiler der interreligiösen Weiterleitungen.  Wie auch immer: Zumindest einen sollte ich im Jahre 2017 schreiben und rundschicken. Was Sie dann mit ihm anfangen, ist Ihre Wahl und Verantwortung.

Ich bin ja überhaupt kein Hegelianer, so dass es schon ungewöhnlich ist, dass ich Hegel zitiere. Die Zitate stammen indes aus einem Artikel von Edmund Weber, von dem ich einen Vortrag auf der Tagung der DVRW, also der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft, im September dieses Jahres in Marburg hörte. Ich habe so meine Verstehensprobleme, sowohl mit Weber, als auch mit Hegel, aber ich hörte neulich in einer Aspekte-Sendung einen weisen Satz: Man solle sich mit Menschen beschäftigen, die anders denken als man selber. Dieser Satz stammt zwar aus einem anderen Zusammenhang, nämlich dem, sich mit „Rechten“ (also politisch Rechten, was ich in Anführungsstriche setzte, weil das Wort „recht“ ja auch eine positive Bedeutung hat, im Sinne von „richtig“, so dass ich Nationalist*innen, nicht gerne als „Rechte“ bezeichne, auch wenn sie im Parlament rechts sitzen) zusammenzusetzen, statt nur über sie zu reden oder gar zu schimpfen. Auf der im Augenblick, da ich dies hier schreibe, noch zukünftigen Bonner Buchmesse Migration werden wir Ali Can als Gast haben, der sich genau dieses zum Motto gemacht hat, indem er ein Sorgentelefon für „besorgte Bürger“ eingerichtet hat, so dass eben solche ihn anrufen und ihre Sorgen mit Ausländer*innen, Andersgläubigen oder sonst wie Fremden ausschütten können. Und er hört zu, wie Momo in Michael Endes gleichnamigem Buch[2], und so kommen sie vielleicht gemeinsam auf bessere Lösungen der Sorgen, als nur Wut und Hass auf die Anderen.[3] Ich hoffe sehr, von ihm einiges lernen zu können.

Nun möchte ich Weber und Hegel, als im Vergleich zu mir Andersdenkenden nicht mit den „Rechten“ oder den „besorgten Bürgern“ auf eine Stufe stellen, sondern nur sagen, dass ihre Denkwege andere sind als die meinen. Aber ich habe auch schonmal Sätze formuliert, die den oben zitierten von Hegel gar nicht so unähnlich sind: "Religion ist die Beziehung des Subjekts zum Absoluten ohne Umweg über das Objektive." Und: "Beten ist ein Selbstgespräch des Absoluten mit sich selbst über den Menschen." Damit lasse ich Sie jetzt mal alleine. Denken Sie darüber nach oder schieben Sie es von sich weg. Ganz wie sie mögen.

Auf besagter DVRW-Tagung kam die Frage auf, warum denn Martin Luther auf der ganzen Tagung gar nicht vorgekommen sei, wo wir uns doch im Lutherjahr befänden. Nun, er kam vor, aber nur unter anderem in irgendeinem der vielen Vorträge. Aber er war nicht Hauptthema und musste es auch gar nicht sein. Die Medien waren schon so voller Luther, dass man schon gar nicht mehr fernsehen oder radiohören konnte, ohne mit Luther konfrontiert zu werden. Irgendwo hieß es dann, 2009 sei ein Calvinjahr gewesen. Haben Sie davon etwas mitbekommen? Ich nicht! Vor zwei Jahren ist es 600 Jahre her, dass Jan Hus in Konstanz verbrannt wurde. Gab es da ein Husjahr? Ich weiß es nicht. Aber klar: Martin Luther ist von den vielen Reformator*innen des westeuropäischen Christentums der erste, der nachhaltigen Erfolg hatte. Wobei dieser nicht sofort 1517 einsetzte, sondern vielleicht gar erst 1962-65, als die Römisch-Katholische Kirche im II. Vatikanischen Konzil nicht weniges von dem, was er gefordert hatte, auch in ihrer Kirche umsetzte, so das Priestertum aller Gläubigen und die Gottesdienste in den Landessprachen. Den Ablasshandel, den Luther in seinen 95 Thesen ja vor allem anprangerte, hat die r.-k. Kirche schon auf dem Konzil von Trient (1545-1563) abgeschafft.

Was aber für so ein Lutherjahr viel wichtiger zu sein scheint, als die wissenschaftliche Frage, wie wichtig genau das Jahr 1517 und der berühmte Thesenanschlag oder seine schon vor dem Anschlag an die Wittenberger Kirchentür erfolge Veröffentlichung in der kirchlichen Korrespondenz war, ist wohl eine psychologische Tatsache: Wir Menschen brauchen Mythen. Und zu solchen Mythen gehören symbolträchtige Handlungen und Ereignisse und die Menschen, die sie vollbrachten. Manche Kritiker*innen sprechen so auch vom Gründungsmythos der Evangelischen Kirche. Luther ist für evangelische Christ*innen, vor allem natürlich für Lutheraner*innen, so wichtig wir Jesus Christus für Christ*innen generell. Das ist eine sehr emotionale Angelegenheit. Und Emotionen sitzen bei uns Menschen viel tiefer als der Intellekt. Luther selber mag noch so sehr ein rationaler Mensch gewesen sein, so war auch sein Denken nicht frei von Mythen. Objekte seines Mythos waren Jesus Christus, die Bibel, der Glaube und die Gnade Gottes. Diese vier waren die Fundamente seiner Theologie. Und er wiederum wurde zum Fundament lutherisch-evangelischer Identität. Das ist nichts Schlimmes, aber man sollte sich dessen bewusst sein, wenn man den Anspruch hat, rational denken zu wollen.

Neulich waren meine Frau und ich eingeladen zu einem anderen Jubiläum: 200 Jahre Geburt von Baha’u’llah, dem Gründer der Bahá’í-Religion. 1817 wurde er also geboren. Bei Manfred Hutter kann man mehr über sein Leben und die Geschichte der von ihm gegründeten Religion lesen.[4] Genau wie bei Luther war sie keineswegs nur glorreich und friedlich. Von den unfriedlichen, ja geradezu fanatischen Seiten der Vor- und Frühgeschichte dieser nachislamischen Religionsgemeinschaft hörte man auf der Geburtstagsfeier freilich nichts, denn es war ja eine Feier und kein wissenschaftliches Symposion. Was man aber beiden Religionen zugutehalten muss: Heute geben sie sich mehrheitlich friedlich, ökumene- und dialogbereit, die Entwicklungen der Gesellschaft teils wohlwollend, teils skeptisch begleitend, als kritisch-integrative Bestandteile der modernen Gesellschaft. Was wäre der interreligiöse Dialog, gerade auch in Bonn, ohne die Beiträge dieser beiden Gemeinschaften?

Somit gratuliere ich also beiden Gemeinschaften zu ihren Jubiläen!

Ebenso gratuliere ich dem liberalen Judentum, dass heuer auch zweihundert Jahre alt wurde. In seiner Folge entstand auch das orthodoxe Judentum als Antithese zum liberalen. Und jetzt fällt es mir schwer, zu gratulieren, denn ich selber bin ein so liberal denkender Gläubiger, dass mir die Existenz derartig rückwärtsgewandter Religionsgemeinschaften, die es in allen Religionen, sofern sie groß genug sind, gibt, irgendwie ein Dorn im Auge ist. Sie geben sich eben nicht oder kaum ökumene- und dialogbereit, sondern exklusivistisch, ausgrenzend, rechthaberisch usw. Na ja, rechthaberisch sind Liberale oft auch. Und rückwärtsgewandt sind Reformer oder Reformatoren ja eigentlich auch, denn sie wollen nichts Neues in die Welt setzen, sondern re(!)formieren, also etwas, das verloren ging, wiederformatieren. Das war mehr oder weniger bei jeder Religionsgründung so: Man wollte das verwässerte, verweltlichte, verkommene oder sonst sie sich in die falsche Richtung entwickelte und verfälschte Original wiederherstellen - modern ausgedrückt: den Resetknopf drücken. Ob Kung Tse, Siddhartha der Buddha, Jesus der Christus oder Muhammad der Rasul’u’llah, alle wollten zurück zu den Quellen, ad fontes, oder zu den Wurzeln, ad radicibus (hoffentlich stimmt mein Latein!). Alle waren sie also radikal oder fundamental. Heute, seit der Aufklärung in Fortschrittsdimensionen denkend, betonen wir lieber das jeweils Neue, das die Religionsgründer brachten. Die Bahá’í, selber schon Kinder des 19. Jahrhunderts, haben den Fortschrittsglauben auch schon mehr verinnerlicht als die älteren Religionen, indem sie betonen, dass Gott in jedem Zeitalter eine neue, not-wendige Offenbarung bringe.

Was natürlich immer bleibt, ist die Tatsache, dass jede Neugründung einer Religionsgemeinschaft, die zumeist nicht als solche geplant war, eine Spaltung einer bestehenden Religionsgemeinschaft mit sich bringt oder zumindest im Konkurrenzkampf mit den bestehenden Gemeinschaften diesen Mitglieder abgeworben werden. Aus der Perspektive der bestehenden älteren Gemeinschaften ist das natürlich bedauerlich, aber aus einer Außenperspektive kann das sogar begrüßt werden, sofern man Vielfalt als positiv bewertet. Im September 2017 bekam ich in Köln den INTR°A-Projektpreis für die Komplementarität der Religionen überreicht.[5] Mit dem Projektgeld werden wir vom IFN her ein Projekt zur Förderung interreligiöser Kompetenz finanzieren. Wenn man von Komplementarität spricht, also von der gegenseitigen Ergänzung, denkt man eine Vielfalt an Angeboten als Voraussetzung. Gäbe es nur eine Religion für alle, könnte niemand diese Religion ergänzen. Etwas platt wäre es aber zu sagen, diese Religion sei für dieses, und jene für jenes zuständig. So einfach ist das nicht. Es hängt eher mit der Passung zwischen dem einzelnen Menschen und einem religiösen Angebot zusammen, ähnlich wie es eine Passung zwischen Patient und Therapie geben muss. Nicht alles ist für jeden gleichermaßen gut. Und bisweilen muss man auch eine Therapie oder eben Religion individuell zusammenstellen, damit sie passt.

Wenn Sie sich mehr oder weniger neutral über die Vielfalt der Religionen in Deutschland informieren wollen, empfehle ich das Handbuch der Religionen in Deutschland, zu dessen Team ich neuerdings auch gehöre. Es ist kein einzelnes Buch, sondern eine Reihe von Aktenordnern, in die mehrmals jährlich neu veröffentlichte Ergänzungslieferungen eingeheftet werden. Es erscheint in der Mediengruppe Oberfranken. Schauen Sie mal in deren Website.[6]

Wenn ich nun aber Probleme mit den rückwärtsgewandten, restaurativen oder konservativen Religionsgemeinschaften habe, sollte ich überdenken, was ihre Anhänger*innen denn antreibt und was sie an den Liberalen oder Progressiven denn stört, was sie an ihnen kritisieren. Und schon bin ich wieder bei dem Vorschlag, mich mit Andersdenkenden zusammensetzen zu sollen. Ja, das ist meines Erachtens die Hauptherausforderung des interreligiösen Dialoges heute: Nicht nur der Dialog zwischen Menschen verschiedener Religionszugehörigkeit, sondern der zwischen Menschen mit verschiedenen Geisteshaltungen, zwischen denen, die ihrer Zeit voraus sind und denen, denen die Entwicklungen viel zu schnell oder gar gänzlich in die falsche Richtung gehen. Das ist heute eine globale Herausforderung.

Zudem hatten wir dieses Jahr bei den GEBETen der Religionen in Bonn seit einigen Jahren erstmals wieder eine jüdische Beteiligung, und das, obwohl die unierte jüdische Synagogengemeinde Bonns viele orthodoxe Mitglieder hat. Die Grenzen zwischen den Vertreter*innen verschiedener Geisteshaltungen, sollte man also auch nicht ideologisch zementieren. Letztlich bleibt bei mir der Wunsch, die Religionsgemeinschaften, die zugleich zumindest im Ansatz verschiedene Geisteshaltungen vertreten, mögen ins Gespräch miteinander kommen und das über dem Trennenden Verbindende suchen. So waren meine Frau und ich neulich am Reformationstag auf einem Fest, zu dem die r.-k. Steyler Missionare in Sankt Augustin den ev. Kirchenkreis an Sieg und Rhein eingeladen hatten. Dort erlebten wir eine Harmonie sondergleichen, ein Zusammengehörigkeitsgefühl der Christ*innen, die, wie der christliche Theologe Georg Schwikart es nennt, in zwei Zimmern desselben Hauses leben. Das wünsche ich mir auch interreligiös und auch mit Menschen, die keiner Religionsgemeinschaft angehören.

Soll ich noch über den Klimawandel schreiben? Ja, aber nur als Zitat einer Bandarole, die ich neulich bei einer jungen, barfußgehenden Frau im Siegburger Bahnhof las, die wohl auf dem Weg zu der Jugend-Klimakonferenz war, und mit diesem Zitat möchte ich schließen:

No climate change! Habit change!
Kein Klimawandel! Verhaltensänderung!

Herzliche Grüße!
Ihr/Euer Michael A. Schmiedel

Interreligiöser Rundbrief für Bonn und Umgebung:
http://interreligioeser-rundbrief.blogspot.de/
Interreligiöses Friedensnetzwerk für Bonn und Region:
https://ifn-bonnregion.jimdo.com/







    





[1] Georg Friedrich Wilhelm Hegel. Vorlesung über die Philosophie der Religion I, Frankfurt a.M. 1969, S. 197 und 198, hier zitiert nach: Edmund Weber. G.W.F. Hegels und Rudolf Ottos Kritik des Empirismus in der Religionswissenschaft. In: Wolfgang Gantke, Vladislav Serikov (Hrsg.). 100 Jahre „Das Heilige“. Beiträge zu Rudolf Ottos Grundlagenwerk = Wilhelm Ludwig Federlin, Edmund Weber und Vladislav Serikov. THEION Studien zur Religionskultur/Studies in Religious Culture, Bd. 32, Frankfurt a.M. (Peter Lang) 2017.
[2] Vgl. Michael Ende. Momo. Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. Stuttgart (Thienemann) 1973.
[3] Vgl. die Ankündigung auf der IFN-Website:  https://ifn-bonnregion.jimdo.com/ (geöffnet am 05.11.2017).
[4] Vgl. Manfred Hutter. Handbuch Bahá‘í. Geschichte, Theologie, Gesellschaftsbezug. Stuttgart  (Kohlhammer) 2009.
[5] Vgl. dazu den Bericht auf der INTR°A-Website: https://web-intra.blogspot.de/2017/09/intra-projektpreis-verleihung-2017-in.html (geöffnet am 05.11.2017).
[6] Vgl. die Anzeigen für das Handbuch der Religionen auf der Website der Mediengruppe Oberfranken: https://bildung.mgo-fachverlage.de/religionswissenschaft.html (Papierversion), https://www.edidact.de/navigation_top_/Handbuch_Religionen/index.htm (Online-Version) und den Wikipedia-Artikelüber das Handbuch der Religionen: https://de.wikipedia.org/wiki/Handbuch_der_Religionen (alle Seiten geöffnet am 05.11.2017).