Montag, Februar 29, 2016

Interreligiöser Rundbrief Nr. 2016-01



Interreligiöser Rundbrief für Bonn und Umgebung Nr. 2016-01 (29.02.2016)
„Ironischerweise also speist sich, besonders bei Männern, die Fremdenfeindlichkeit, die sich vor allem gegen Muslime richtet, genau aus den Motiven, die an der fremden Kultur stark abgelehnt werden. Xenophobe Männer bekämpfen ihren eigenen Schatten.“
Aus der Xenosophie- und Xenophobie-Studie der Universität Bielefeld.[1]

Liebe Leser*innen,

die meisten von Ihnen haben nicht mitbekommen, was in den letzten Wochen alles an Veranstaltungshinweisen und Links auf Presseartikel in meinem kleinen interreligiösen Verteiler weitergeleitet wurde und erst recht nicht, was mich sonst noch so alles erreichte. Und doch werden Sie alle berührt sein, von den Diskussionen, die derzeit durch unsere Gesellschaft ihre Bahnen ziehen, Diskussionen über den Flüchtlingsstrom, über Grenzen, über Kriege und Armut, über Religionen und Kulturen, über Gesinnungs- und Verantwortungsethik, über Identität und Fremdheit.

Es ist nicht einfach, sich einen Weg durch den Dschungel der Meinungen zu bahnen und in der aufgeheizten Stimmung einen kühlen Kopf, aber ein warmes Herz zu behalten. Sollen „wir“ nun „alle“ herein lassen? Kommen „die“ nicht aus einer „anderen Kultur“, die der „unseren“ so fremd und unkompatibel ist? Behandeln „die“ nicht „ihre“ Frauen schlecht und wollen nun auch noch „unsere“ haben? Diskriminieren „die“, die vor Diskriminierung und Verfolgung fliehen nicht ihrerseits Andersgläubige in den Flüchtlingsheimen? Und sind denn „die“ Sachsen jetzt total übergeschnappt und zünden Flüchtlingsheime an? Solche Fragen höre ich immer wieder im Fernsehen, im Radio, in persönlichen Gesprächen oder lese sie in Zeitungen, Internetseiten und E-Mails.

In Italien gibt es eine Stadt, die ihr Ortsschild mit einem Bekenntnis zum Christentum garniert hat, um alle die zu warnen, die sich dieser christlichen Stadtkultur nicht anpassen wollen, seien es muslimische Flüchtlinge, die „gottlose Presse“, die „linken Gutmenschen“ oder die „Gender-Ideologen“.[2] Da weiß man wo man dran ist. Dort herrscht Zucht und Ordnung. Es gibt Menschen, die wünschen sich solche Schilder an der EU-Außengrenze. Ob sie wohl Jesus herein lassen würden?

Politiker und Parteien mit klaren Linien, starken Worten und Taten, Führerpersönlichkeiten haben Konjunktur. Viele Menschen sehnen sich nach eindeutiger Orientierung, nach Sicherheit, nach unhinterfragter Identität. In manchen Staaten sind Regierungen an der Macht, die diese Sehnsucht zu erfüllen trachten: in Saudi-Arabien, in der Türkei, im Iran (wobei die aktuellen Wahlen wieder Hoffnung auf Besserung keimen lässt), in Russland und auch in der EU in Ungarn und Polen. In anderen Staaten steigen die Anhängerzahlen solcher Parteien: in den Niederlanden, in Schweden, in Frankreich, in Italien, in Österreich, in der Schweiz, in den USA und auch bei uns in Deutschland, nicht nur in Sachsen. Die oben zitierte Studie meiner Kolleg*innen in der Universität Bielefeld nennt das „Nicht-Ertragen-Können von Komplexität“.

Nun muss man aber auch zugeben, dass das Ertragen-Können von Komplexität und von Fremdheit eine Eigenschaft ist, die nicht vom Himmel fällt, sondern von vielen Bedingungen in der Biographie eines Menschen abhängt. Entsprechende Erfahrungen von Komplexität und Fremdheit als positiver Eindrücke sind wichtig. Wer intellektuell und/oder emotional überfordert ist oder wer hauptsächlich negative Erfahrungen gemacht hat, wird dem kaum was Positives abgewinnen können. Wer sich übervorteilt fühlt oder abgedrängt, wer den Eindruck hat, dass die, die in der Gesellschaft das Sagen haben, Wasser predigen und Wein trinken, also unehrlich zugunsten der eigenen Karriere und des eigenen Profits argumentieren, dass die Komplexität hergestellt wird, um zu verwirren und über die so Verwirrten Macht auszuüben, der wird anderswo sein Heil suchen, dort wo er sich verstanden fühlt, wo er durchzublicken meint, wo die Identitäten eindeutig sind und man Freund und Feind unterscheiden kann.

Es nützt also gar nichts mit „Nazis raus“-Parolen Pegidisten anzubrüllen oder Marokkaner schräg anzugucken, weil man meint, nie wissen zu können, was das denn für einer ist. Jede so geäußerte Aggression kommt wie ein Bumerang zurück. Verbrechen müssen vom Staat geahndet werden, und der darf dabei auf keinem Auge blind sein. „Besorgten Bürgern“ begegnet man am besten mit einer klaren Haltung, aber ohne Aggression, und Menschen „mit Migrationshintergrund“ freundlich und höflich mit nicht mehr Misstrauen, als man gegen Menschen ohne diesen Hintergrund auch aufbringt.

Es wird derzeit nach den berühmten „Wir-schaffen-das“-Worten der Bundeskanzlerin, die sicher nicht wenige Menschen ermuntert haben, in Deutschland Zuflucht zu suchen, so viel über Gesinnungsethik geschimpft bzw. über „Gutmenschentum“, wie die Vertretet eines – ja  was denn, Bösmenschentums? – es  nennen. Sicher muss auch Verantwortungsethik dazu kommen. Wer nicht schwimmen kann, soll nicht ins Wasser springen, um einen Ertrinkenden zu retten. Man darf nicht allein auf ehrenamtliche Rettungsschwimmer hoffen. Aber es kann auch keine Verantwortungsethik ohne Gesinnungsethik geben. Denn ohne Gesinnungsethik kommt man gar nicht auf die Idee, Ertrinkende retten zu wollen. Ohne eine ethische Gesinnung denkt jeder nur an sich selbst. Das wäre Neoliberalismus pur. Ist es das, was die Gesinnungsethikkritiker wollen?

Die Bielefelder Studie zeigt übrigens auch, dass xenophobe Männer oft ein hohes Maß an traditionellen Männlichkeitswerten aufweisen.[3] Darauf zielt das Zitat oben ab. Ähnlich argumentiert Barbara Vinken.[4] Da scheinen also uralte Triebe und Ängste in uns aufzusteigen, lange vorchristlich und voreuropäisch. Aber im Großen und Ganzen halten sich der Bielefelder Studie zufolge Fremdenfeindlichkeit (Xenophobie) und Fremdenfreundlichkeit (Xenophilie) noch die Waage. Dass die kippen kann, ist aber auch ein Teil der Wahrheit. Xenosophie, die Bereitschaft das Fremde als Quelle der Weisheit anzusehen, bedarf der Einübung. Das Interview mit Nina F, in der Bielefelder Studie zeigt sehr deutlich, wovon das alles abhängen kann.[5] Bemerkenswert finde ich das Zitat Nina F.s aus dem Interview, ganz unten auf der in Fußnote 5 verlinkten Seite, wenn Sie auf das hervorgehobene „explizit so formuliert“ klicken. Dort plädiert sie dafür „sich auf Sachen einzulassen. Und bereit zu sein, Dinge zu verstehen“[6].

Ich möchte auch dazu ermuntern, sich auf Komplexität einzulassen. Vollständig kann sie keiner erfassen, genau so wenig, wie Gott ins Antlitz zu schauen. Wir alle müssen Komplexität reduzieren, aber es macht einen Unterschied, ob man das, was man fassen kann, für alles hält und was darüber hinaus geht, nihiliert, oder ob man weiß und eingesteht, dass es hinter dem eigenen geistigen Horizont immer noch weiter geht. Bleiben Sie neugierig, lassen Sie sich nicht mit einfachen Antworten abspeisen, lassen Sie Zwischentöne zu! Zur Einübung der Zwischenton-Toleranz empfehle ich schon mal den Radiobeitrag „Keine Unterschiede machen“ von Martin Zeyn.[7]

Und doch möchte ich schließen mit einem ganz einfachen, unkomplizierten Ratschlag: Üben Sie sich einfach mal in Empathie, in Mitgefühl, in Nächstenliebe. Stellen Sie sich vor, sie müssten wegen Armut und/oder Krieg Ihre Heimat verlassen. Wie würden Sie in einem fremden Land gerne aufgenommen werden?   

Zum Schluss zwei Termine in eigener Sache:
„Vom Umgang mit dem Fremden“. Vortrag/Workshop. MIGRApolis-Haus der Vielfalt, Brüdergasse 16-18, 53111 Bonn, 2. Stock, Mi 23.3.2016, 18 Uhr. Eine Veranstaltung des BIM e.V.
Interreligiöser Gesprächskreis. „Was macht uns Angst vor Fremden?“ Bei Lioba von Lovenberg, Argelanderstraße 6, 53115 Bonn, Do 6.4.2916, 19.30 Uhr. Eine Veranstaltung von RfP Bonn/Köln.  

Und noch ein Zitat:
„Natürlich gibt es Menschen, die in ihrer Oberflächlichkeit und Gleichgültigkeit unüberbietbar sind. Und trotzdem hängt Menschsein mit der Möglichkeit reflexiver Auseinandersetzung  zusammen.“
                                                                                                                               Kurt Wuchterl[8]

Herzliche Grüße,
Ihr Michael A. Schmiedel
http://www.migrapolis-deutschland.de/?id=michaelaschmiedel

Ehrenamtlich aktiv u.a. bei:
www.religionsforpeace.de
www.bimev.de

Interreligiöser Rundbrief im Netz:
http://interreligioeser-rundbrief.blogspot.de

PS: Diesen Text schrieb ich am 29.2.2016 zu Hause.


[1] CIRRuS (Center for the Interdisciplinary Research on Religion and Society). Xenosophie und Xenophobie. Erste Ergebnisse zu Xenophobie  und Xenophilie. http://www.uni-bielefeld.de/theologie/forschung/religionsforschung/forschung/streib/inter/umfrageergebnisse.html. Letzte Aktualisierung 19.2.2016. (geöffnet am 29.2.2016).
[2] Vgl. Deutschlandfunk. Tag für Tag. Thomas Migge Unsere Stadt soll christlich bleiben. 29.2.2016, http://www.deutschlandfunk.de/italien-unsere-stadt-soll-christlich-bleiben.886.de.html?dram:article_id=346802 (geöffnet am 29.2.2016).
[3] Vgl. Fußnote 1.
[4] Vgl. Deutschlandradio. Tag für Tag. Die Verkehrung der Geschlechterhierarchie. Barbara Vinken im Gespräch mit Christiane Florin, 4.2.2016: http://www.deutschlandfunk.de/karneval-verkehrung-der-geschlechterhierarchie.886.de.html?dram:article_id=344520 (geöffnet am 29.2.2016).  
[5] Vgl. CIRRuS (Center for the Interdisciplinary Research on Religion and Society). Xenosophie und Xenophobie. Wie eigene Fremdheit zur Offenheit führt: Die exemplarische Fallstudie von Nina F., letzte Aktualisierung: 8.2.2016, http://www.uni-bielefeld.de/theologie/forschung/religionsforschung/forschung/streib/inter/fallstudie.html, (geöffnet am 29.2.2016).
[6] Ebd.
[7] Vgl. Deutschlandfunkt. Essay und Diskurs. Martin Zeyn. Keine Unterschiede machen http://www.deutschlandfunk.de/philosophie-keine-unterschiede-machen.1184.de.html?dram:article_id=334406, 15.11.2015, (geöffnet am 29.2.2016).
[8] Kurt Wuchterl, Analyse und Kritik der religiösen Vernunft. Bern, Stuttgart 1989 (Haupt/UTB), S. 75.